Das Gerberhaus in Oberwil-Lieli – Ein Glücksfall
Prominent, inmitten des Bauerndorfes Oberwil und umgeben von unüberbautem Wiesland, steht dieses markante Gebäude. Durch die Rückversetzung von der Strasse und die besondere Höhe, wirkt es auf den Passanten umso stattlicher: das sogenannte Gerberhaus, ein bäuerlicher Vielzweckbau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Das Gerberhaus im Unterdorf von Oberwil-Lieli ist nicht wie man annehmen möchte eine frühere Gerberei. Vielmehr deutet die Bezeichnung auf den letzten Bewohner hin. Denn früher trugen die Bauernhöfe der bäuerlichen Tradition entsprechend jeweils den Namen des aktuellen Bauern bzw. Pächters. Mit dem Auszug des letzten bäuerlichen Pächters, Ueli Gerber und seiner Familie, endete die bäuerliche Bewirtschaftung des Hofes – der Name Gerber indes blieb bis zum heutigen Tag an diesem Gebäude hängen.
Die Rettung des Gerberhauses
Das Dorf Oberwil-Lieli liegt zwar an wunderschöner Lage zuoberst auf dem Holzbirrliberg, mit prächtiger Aussicht ins weite Reusstal und einem unvergleichlichen Alpenpanorama. Aber über eine intakte historische Bausubstanz verfügt das Dorf leider nur noch in bescheidenem Masse. Das Gerberhaus ist eine Ausnahme, ja ein Glücksfall. Denn beinahe wäre auch dieses ehemalige Bauernhaus der Abbruchbirne zum Opfer gefallen.

Historische Aufnahme 1978 (© Denkmalpflege Kanton Aargau)
Die Gemeinde als spätere Grundeigentümerin plante nämlich, das gesamte noch freie Gebiet im Unterdorf inkl. Gerberhaus überbauen zu lassen. Auf Initiative des Vereins Kulturgeschichte und vieler Engagierter wurde allerdings im Jahr 2011 an der Gemeindeversammlung entschieden, das ehemalige Bauernhaus nicht abzureissen, sondern als schützenswertes Gebäude zu erhalten, zu renovieren und einem öffentlichen kulturellen Zweck zuzuführen.
Darum steht das historische Gebäude noch heute stolz auf dem grosszügigen, freien Areal, als ein Zeuge alten, vergangenen Bauernlebens, oder etwas nüchterner ausgedrückt, als Objekt mit kommunalem Substanzschutz. Hier wartet es auf seine zukünftige Bestimmung als kleines und feines Dorfmuseum, aber auch als lebendiger Begegnungsort für Jung und Alt. Als Ort, wo altes Handwerk gepflegt und gezeigt wird, wo Anlässe und Feiern das Dorfleben bereichern sollen und wo kleine Bauernmärkte und Workshops das Interesse an regionalen, hausgemachten und natürlichen Produkten wecken wird.
Der Verein Kulturgeschichte Oberwil-Lieli wurde mit der Restaurierung betraut – in Fronarbeit und unter finanzieller Trägerschaft der Einwohnergemeinde. Parallel zur immer noch laufenden Renovation konnten mittlerweile auch schon eine ganze Anzahl von Anlässen für die Dorfbevölkerung durchgeführt werden.
Ortsmuseen oder Dorfmuseen gibt es landauf landab in ansehnlicher Zahl. Der Verein Kulturgeschichte möchte mit dem Gerberhaus nicht ein weiteres „Mini-Ballenberg“ dieser eindrücklichen Reihe hinzufügen. Lediglich die beiden Wohnstuben und die Küchen werden mit historischem Mobiliar ausgestattet. Die oberen Räume hingegen sollen für Anlässe und Ausstellungen mehr oder weniger freigehalten bleiben.

Geschichte des Gerberhauses
Was ist das Besondere am Gerberhaus?
Im Kurzinventar (1998) beziehungsweise Bauinventar (2018) der kantonalen Denkmalpflege wird das 1851-1853 errichtete Bauernhaus als „wirklich aussagekräftiges Zeugnis bäuerlicher Bau- und Wohnkultur des 19. Jahrhunderts“ gewürdigt. Denn nicht nur im äusseren Erscheinungsbild ist es intakt. Es ist auch bezüglich der inneren Raumdisposition und der fast vollständig bewahrten Ausstattung seit der Erbauungszeit noch ursprünglich erhalten.
Die auffallendste Besonderheit ist aber, dass das Gebäude axial unter dem First in zwei gespiegelte, fast identische Wohneinheiten unterteilt ist, getrennt lediglich durch einen mittigen Korridor. Das Gerberhaus ist ein Doppelwohnhaus.

Stirnseitige Schaufassade mit Treppe zum Hauseingang und Klebdächli (© Denkmalpflege Kanton Aargau)
Das Gerberhaus bot somit gleichzeitig Wohnraum für zwei Bauernfamilien. Diese Besonderheit der axial gespiegelten Doppelwohnungen erklärt auch die markante Grösse und Höhe des Gebäudes.
Links beziehungsweise rechts nach dem Hauseingang (Giebelfassade) befindet sich je eine Wohnstube mit vollständig erhaltenen und betriebstüchtigen Kachelöfen von besonderer Schönheit.

Wohnstube Ost mit prachtvollem Kachelofen und Sitzkunst

Wohnstube West mit Kachelofen
In den je dahinter angrenzenden beiden Küchen sind noch die alten Eisenherde vorhanden, ebenfalls voll funktionstüchtig.

Holzherd Ost: wurde 2018 vollständig restauriert

Holzherd West (Aufnahme 2018 © Denkmalpflege Kanton Aargau)
Die Küche West verfügt sogar noch über einen ganz archaisch wirkenden steinernen Schüttstein mit Aussenabfluss.
Auch im Obergeschoss setzt sich die hälftige Aufteilung der beiden Wohnungseinheiten fort: je links und rechts sind zwei hintereinanderliegende Schlafkammern angelegt.
An den Wohnkomplex schliesst unter demselben First eine grosse Scheune mit Tenn und Stall an. Das Tenn kann direkt vom Wohn-Korridor aus betreten werden.
Die giebelseitige Fassade weist ein Klebdach auf, ein typisches Merkmal der alten Bauweise im aargauischen Freiamt. Eine Steintreppe an der Giebelseite führt hinauf zum gemeinsamen Hauseingang.
Das Gerberhaus in alten Karten und Aufnahmen
Schon in der Michaeliskarte von 1840 ist ein Vorgängerbau des heutigen Gerberhauses verzeichnet.

Michaeliskarte 1940 mit Vorgängergebäude
An seiner Stelle wurde ungefähr in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Doppelbauernhaus errichtet. Auch in der späteren Siegfriedkarte von 1882 kann das Gerberhaus genau ausgemacht werden.

Siegfriedkarte 1882 mit Gerberhaus
Nur vereinzelte Bauerngehöfte inmitten einer Landschaft von endlosen Obstbaumgärten, Wiesen und Äckern – so zeigte sich das Dorf Oberwil noch bis zur ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts.

Flugaufnahme 1922 von Walter Mittelholzer (© Luftbild Schweiz Dübendorf) mit Gerberhaus

Luftbild von Oberwil in den 1950er Jahren mit Gerberhaus

Luftbild von Oberwil, W. Friedli, 1953
Wer wohnte im Gerberhaus?
Das Gerberhaus wurde 1851-1853 erbaut, wie aus der Jahreszahl 1851 am Kellertürsturz und der Inschrift 18 IH ST 53 auf der Sitzkunst des einen Kachelofens hervorgeht. Die Initialen IH ST sind ein Hinweis auf Johann Staubli als vermutlichen Bauherren. Die vollständige Eigentümerchronologie ist leider nicht bekannt.

Unterbau Sitzkunst mit Inschrift 18 ICH*ST 53 (© Denkmalpflege Kanton Aargau)
Ab 1954 bis zum Jahre 1977 wurde der Hof nicht mehr von den jeweiligen Grundeigentümern, sondern von Pächtern bewirtschaftet. Im 20. Jahrhundert zogen nämlich viele Berner Bauern aus ihrer Heimat aus und übernahmen als Pächter Bauernhöfe in ihrer neuen Wahlheimat – so auch im Freiamt beziehungsweise in Oberwil. Der letzte Pächter der Unterdorfstrasse 77 (heute Hausnummer 18), der bereits erwähnte Ueli Gerber, stammte wie sein Vorgänger Rindlisbacher ebenfalls aus dem Emmental. Der Pachtbetrieb bot indes keine nachhaltige Existenzgrundlage, Ueli Gerber sah als Pächter keine Zukunftsperspektive mehr und so wanderte er 1977 mit seiner Familie nach Kanada aus. Das gesamte Hab und Gut von Haus und Hof kam unter den Hammer – eine bäuerliche Epoche wurde versteigert. Geblieben ist nur der Name Gerber.
1978 erwarb die Einwohnergemeinde Oberwil-Lieli den Hof von Robert Hafner-Wüest. Von jenem Zeitpunkt an verpachtete die Einwohnergemeinde den Hof nicht mehr als ganzen bäuerlichen Landwirtschaftsbetrieb, sondern nur noch Teile des dazugehörenden Wieslandes. Das Wohnhaus wurde vermietet und die Wirtschaftsgebäude zu verschiedenen Nutzungen zur Verfügung gestellt.